Pfarrer Reiner Kalmbach betreut für die argentinische Kirche della Plata ein Kinderheim für Straßenkinder sowie ein Altenheim in der Region Patagonien am Rio Negro. Schon seit Jahren sind sie auf Spenden angewiesen, doch die Lage ist verzweifelter denn je. Der Staat ist praktisch pleite, und das hat zur Folge: Leere Rentenkassen. Leere Krankenkassen. Geschlossene Schulen. 40 Prozent des Bruttosozialprodukts fließen in die Tilgung von Auslandsschulden.
Angesichts der ausstehenden Zahlungen aus den öffentlichen Kassen haben viele private Einrichtungen bereits den Laden dicht gemacht und ihre Insassen praktisch auf die Straße gesetzt. Daher ist die Arbeit der Familie Kalmbach noch wichtiger geworden. Reiner Kalmbach sagt über die Lage in Argentinien: „90 Prozent der Bevölkerung leben nicht in Armut, sondern in Elend.“ Auch wenn es manchmal verlockend sei, ins „warme Nest“ nach Europa zurückzukehren, kann er bei so viel Not nicht einfach wegsehen. Wir sollten ihm helfen, die Not etwas zu lindern.

Reiner Kalmbach über die Lage in Argentinien

(Südwestpresse vom 03.04.02):

Die Globalisierung und ihre Konsequenzen hätten der Dritten Welt nur Elend gebracht. Die Reichen würden immer reicher, alle anderen immer ärmer. Warum es gerade in Argentinien – einst eines der reichsten Länder der Erde – so schlimm sei, darüber denkt Kalmbach viel nach. „Schon die Spanier kamen nicht dorthin, um zu siedeln, in der Hoffnung auf eine gerechtere Welt, wie die Menschen nach Nordamerika. Sie kamen nur zum Ausbeuten“, erinnert er. Und das heute machen seiner Meinung nach die großen Konzerne noch immer. Sie beuteten die Bodenschätze, das fruchtbare Land, die riesigen Süßwasserreserven aus. Damit erzielten sie Riesengewinne, was an sich nicht so schlimm sei, aber: Diese Gewinne flössen alle außer Landes. Das Gesundheitswesen sei zusammengebrochen, die Schulen hätten nach den Ferien nicht wieder aufgemacht, die Bevölkerung hungere – und das in einem ehemals reichen Land. Die Lage sei katastrophal. „Todavia cantamos, todavia esperamos“ – „noch singen wir, noch hoffen wir“ würde wieder bei Demonstrationen gesungen.

Von den Tabakbauern in Misiones legte Kalmbach Zahlen vor. Von 1650 Dollar im Jahr 1991 sei das Jahreseinkommen einer Familie auf 620 Dollar im Jahr 1996 gesunken. „Bauern verkaufen mittlerweile ihre Kinder“, berichtete er. Von dem Erlös könnten sie ihre Familien ein Jahr lang ernähren. Schätzungsweise 1500 Kinder seien im vergangenen Jahr an zahlungskräftige Europäer und Nordamerikaner verkauft worden. Früher seien die Bauern Selbstversorger gewesen, heute müssten sie alles für teures Geld kaufen. Das Land sei in der Hand der Tabakkonzerne.

In Patagonien lebt Kalmbach im Tal des Rio Negro, des größten Obst-Anbaugebietes der Welt. Die einst wohlhabenden Bauern sind seinen Schilderungen zufolge inzwischen verarmt. Für ein Kilo Äpfel bekämen sie umgerechnet noch ein bis zwei Cent. Das Altersheim, das die Gemeinde Kalmbachs betreibt, sei früher zum Teil durch Obstverkauf finanziert worden. „Im letzten Jahr haben wir 500 000 Kilo Äpfel und Birnen an den Bäumen verfaulen lassen“, erzählt er bitter. Die Kosten für die Ernte hätten den Erlös überschritten. Da 10 der 16 Bewohner des Altenheimes kein Einkommen mehr haben, weil die Rentenversicherung zusammengebrochen ist, mussten vier von fünf Angestellten entlassen werden. Ein Haus zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen, das erst vor kurzem eröffnet wurde, musste geschlossen werden. „Vorübergehend“, hofft Kalmbach.

Oscar Lamberto über die Verhandlungen Argentiniens mit dem Internationalen Währungsfond (IWF)

(Zeitschrift „Veintitres“ vom 02.05.02)

Oscar Lamberto war bis 27. Mai argentinischer Finanzsekretär und hat vier Monate lang vergeblich mit dem IWF um Hilfen verhandelt.

IST EINE VEREINBARUNG MIT DEM IWF MÖGLICH, UM DIE FINANZHILFE ZU ERHALTEN, DIE DAS LAND BRAUCHT?

Die ständige Hinhaltestretegie der IWF-Funktionäre gibt einem zu denken, dass es das wahrscheinlichste ist, dass die Hilfe erst dann kommen wird, wenn unser Land bis auf den Grund überhaupt gesunken ist. Denn jedesmal, wenn wir zugestimmt und es geschafft haben ihre Bedingungen zu erfüllen, kamen sie uns mit neuen Auflagen. Sie haben sozusagen ständig die Spielgrenzen verschoben…

WARUM TUN SIE DAS?

Im IWF leben sozusagen zwei unterschiedliche Positionen zusammen: Die von Anne Krueger, die die Interessen der USA vertritt, und will, dass Argentinien explodiert und in eine Hyperinflation verfällt, die alle Aktivposten entwertet, damit die US-amerikanischen Kapitale kommen können um alles für „ein Appel und ein Ei“ zu kaufen. Der Deutsche Horst Köhler will andererseits, dass wir 500.000 Staatsangestellte feuern, dass wir so viel wie möglich leiden, aber er möchte nicht bis zur Hyperinflation gelangen. Die Nordamerikaner ziehen die Verhandlungen ständig bis ins endlose hin, damit wir in der Zwischenzeit der Hyperinflation verfallen; die Europärer ihrerseits schinden Zeit, um uns untertdessen zu zähmen: letztere werden 1 Sekunde vor dem Abhang bremsen, damit wir nicht gänzlich abstürzen. Worin sich beide einig sind ist, dass wir unterdessen weiterleiden sollen.

WARUM SIND DIE NORDAMERIKANER SO DARAN INTERESSIERT IN EINEM LAND ZU INVESTIEREN, AUS DEM SICH ALLE ZURÜCKZIEHEN WOLLEN?

Die gegenwärtige US-amerikanische Regierung hat seine Wurzeln bei den Unternehmern. Viele von denen sind immer noch sehr ärgerlich darüber, dass sie bei den Privatisierungen der ´90 Jahre gegenüber den Europäern die Ausschreibungen verloren haben. Jetzt kommen sie um Revanche. Sie meinen, wenn sie hier die öffentlichen Betriebe für 2 Peso kaufen, können sie einige Jahre sehr gute Geschäfte machen. Ausserdem muss man dieses alles auch unter dem Gesichtspunkt eines geopolitischen Kampfes mit der Europäischen Gemeinschaft sehen.

WAS WAR DAS LETZTE, WAS SIE VON UNS VERLANGT HABEN?

Jetzt mischen sie sich in die Tarifverhandlungen der privatisierten Dienstleistungsbetriebe ein. Sie wollen unbedingt Tariferhöhungen durchdrücken (obwohl das vertraglich unmöglich ist). Im Grunde haben alle ihre Forderungen mit der „Marktfreiheit“ zu tun. Aber unter den gegeben Umständen führen uns diese Bedingungen direkt in die Hyperinflation.

WAS SUCHT DIE EUROPÄISCHE LINIE?

Sie wollen die Wirtschaft stabilisieren. Aber sie meinen, vorher muss man die „politische Klasse“ (Korporation der Politiker) domestizieren. Sie wollen nicht nur ein Sparprogramm, sie wollen ein Sparprogramm, das auch politisch tragbar ist, also von allen unterzeichnet wird. In all dem erkennt man deutlich eine Misshandlung, die Einstellung derjenigen, die uns unterwerfen wollen. Eine Haltung, die die argentinischen Politiker akzeptieren müssten als Zeichen der Erfüllung ihrer Bedingungen.

WELCHE ALTERNATIVE BLEIBT DANN UNSEREM LAND ZWISCHEN DER NORDAMERIKANISCHEN UND DER EUROPÄISCHEN POSITION?

Das einzige was wir tun können ist das zu erfüllen, was uns möglich ist und zu hoffen, dass die internationale Gemeinschaft -vor allem die Bevölkerung und die Intelektuellen- Druck auf ihre jeweiligen Regierungen ausüben, damit diese ihre Haltung ändern. Die Bilder der Gewalt auf den Strassen und der hungernden Kinder (im Fernsehen) lassen heute in vielen Menschen der „ersten Welt“ das Bewusstsein darüber entstehen, wie dramatisch die  argentinische Situation ist“.

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